Nach 2 Jahren pandemiebedingter Zwangspause, konnten wir wieder eine gemeinsame Veranstaltung realisieren.
Es war die bereits dritte historische Belebung durch Mitglieder der Gesellschaft für Hessische Militär- und Zivilgeschichte e.V., Cour de Cassel, Club Rocaille, Regiment No.12 „Erbprinz von Hessen-Darmstadt“, Füsilier Regiment von Ditfurth und vielen anderen Darstellern im Museum Palais Hohhaus in Lauterbach (Hessen).
Der Museumsverein Hohhaus ermöglichte diese, in Deutschland einmalige Veranstaltung in dem historischen Gebäude.
Das neue Konzept
Wir als Organisationsteam hatten für diese dritte Veranstaltung nach der langen Pandemiepause einen neuen Ansatz. Wir wagten ein Experiment: die Verknüpfung von Reenactment / Living History und Larp.
An dieser Stelle seien die verschiedenen Begriffe kurz erklärt:
Reenactment beschreibt die Wiederaufführung ganz bestimmter historischer Ereignisse, wie z.B. die Schlacht von Waterloo.
Living History hingegen ist eine Inszenierung einer bestimmten historischen Lebenswelt, wie in unserem Fall das späte 18. Jahrhundert.
Beide Ansätze haben einen sehr hohen, musealen Anspruch, was Garderoben, Uniformen und Ausstattungen angeht. Hier wird viel nach und mit Originalen gearbeitet, um ein möglichst historisch glaubwürdiges und stimmiges Szenario zu erzeugen.
Larp (Live Action Role Play) legt den Schwerpunkt auf das Spielen, das Darstellen einer selbstgewählten Rolle am ehesten vergleichbar mit Improvisationstheater. Doch diese Charaktere folgen keinem festgelegten Script, Charaktere können sich weiterentwickeln. Es wird nicht verlangt, dass die Darsteller Schauspielunterricht erhalten haben und ihre Rolle dementsprechend spielen, wie z.B. mit auswendig gelernten Texten für Theaterstücke. Das Thema beim Larp kann frei gewählt werden, egal ob Geschichte, Fantasy oder Science Fiction, es ist alles erlaubt was Spaß macht.
Unser oberstes Ziel sollte dabei sein, dass die Darsteller authentisch bleiben, dabei die Zeit / Epoche ihres Handels im Kopf haben, dazu kommt die eigene Position in der Gesellschaft (Stand, Rang, Beruf) und die gesellschaftlichen Konventionen der Zeit, wie z.B. die Hofetikette. Aus dieser Perspektive heraus soll agiert werden. Eine Spielleitung entwirft Storyplots, typisch für Larp, aber eng angelehnt an die eigentliche Geschichte, jedoch mit dem Ziel, dass eine Eigendynamik entsteht.
Dazu kommen festgelegte Programmpunkte, die den Tagesablauf bei Hofe bestimmen.
Dieses Konzept war so noch nie umgesetzt worden. Zur Ehrlichkeit gehört auch dazu, dass viele Veranstaltungen, auch unsere eigenen, trotz aller Detailliebe mehr in eine Art Kostümcamping endeten, oder bei höfischen Veranstaltungen mehr als Tanz, Essen und Flanieren nicht stattfand. Und das war uns einfach zu wenig.
Durch unsere kreative Vorarbeit im Hintergrund, änderte sich dies nun schlagartig und machte diese Veranstaltung für alle Beteiligten zu einem Ereignis, dass die Vorstellungen und gedachten Grenzen völlig sprengte. Selbst langjährige Reenactors, die 20 Jahre und länger dabei sind, beschrieben es als eine regelrechte Wiedergeburt. Das Publikum war fasziniert, fast schockiert von der Ernsthaftigkeit, und Glaubwürdigkeit, wie die Leute ihre Rollen spielten, oder vielmehr lebten.
Denn die Teilnehmer lebten ihre Rollen, auch wenn sie nur unter sich waren. Uns war es wichtig, dass wir keine Besucheranimation machten, d.h. wenn Besucher den Raum betraten wir erst dann eine bestimmte Szene vorspielten.
Das war kein "Theater" mehr, das war eine wirkliche Zeitreise und wir wurden noch nie mit so viel positivem Feedback und begeisterten, glühenden Reaktionen regelrecht bombardiert. So schrieb ein Teilnehmer, er könne sich nur schwerlich vorstellen, dass Veranstaltung ohne diese Elemente, ohne dieses Konzept noch funktionieren, wenn man das jetzt erlebt hat.
Wir sind selbst völlig überwältigt von denen eigenen Eindrücken. Für uns ist klar, dass das der Weg in die Zukunft, den das Reenactment im 18. Jahrhundert nehmen muss. Und selbstverständlich arbeiten wir bereits an einer „zweiten Staffel“.
Der Hoftrompeter verkündet die Ankunft des Landgrafen zur Parade.
Foto: Alexander Jungmann
Die Parade der Garde vor dem Schloss oder auf dem Friedrichsplatz gehörte zum täglichen Ritual.
Foto: Osthessen-news / Erich Gutberlet
Der Landgraf grüßt die Regimentsfahne seines Garderegiments.
Foto: Osthessen-news / Erich Gutberlet
Der Hof spottete hinter vorgehaltener Hand über den Landgrafen "da geht er wieder Soldat spielen..."
Foto: Alexander Jungmann
Die Offiziere (Leibregiment und Knyphausen) spekulieren auf lukrative Posten.
Foto: Alexander Jungmann
Der Offizier (Regiment Prinz Carl eigentlich Preußen No.9) kommandiert die Parade.
Foto: Alexander Jungmann
Die Soldaten sind zur Inspektion bereit.
Foto: Alexander Jungmann
Dem englischen Unterhändler werden die Soldaten präsentiert.
Foto: Osthessen-news / Erich Gutberlet
Auch die Damen des Hofes interessieren sich für die schmucken Soldaten.
Foto: Olivier Bellec
Die Veranstaltung selbst setzte im Herbst 1775 an. Es ist der Moment, in dem die Landgrafschaft Hessen-Kassel in die Weltpolitik eingreift. Wir bewarben unsere Veranstaltung mit folgendem Text, der auch das allgemeine Setting beschreibt:
„1775 - Es ist ein bewegendes Jahr für die Landgrafschaft. In den amerikanischen Kolonien sind Unruhen ausgebrochen. Um der Lage wieder Herr zu werden, will das Königreich England beim Landgrafen von Hessen-Kassel im großen Stile Truppen anmieten. Geld, das die Landgrafschaft nach dem verheerenden siebenjährigen Krieg dringend benötigt, um die ambitionierten Pläne des Landgrafen zu finanzieren. Diplomaten gehen ein und aus, der Hofadel ist ebenfalls in Unruhe, da die Residenz umgebaut werden soll und so die Wohnungen neu vergeben werden. Viele Bürger versuchen bei der Administration ihre Geschäfte voranzubringen und die Offiziere bemühen sich um attraktive Posten."
Doch dies ist nur ein Teil von den Geschehnissen: Dem Landgrafen wurden Meldungen überbracht, dass der stellvertretende Kommandeur der Garnison Wesel nicht mehr erreichbar war, dort war sein Preußisches Regiment „Landgraf von Hessen“ stationiert.
Dann gaben sich die Diplomaten aus England und Frankreich die Klinke in die Hand. Die Verhandlungen zum Subsidien Vertrag begannen.
Die Schlosswache bearbeitet die Tagesbefehle.
Foto: Peter J. Scherer
Dem Publikum wird das Ankleiden einer Dame vorgeführt.
Foto: Alexander Jungmann
Im Salon des Luxus und der Moden werden kostbare Stoffe angeboten....
Foto: Olivier Bellec
..und vermessen und verkauft.
Foto: Olivier Bellec
Auch andere Galanteriewaren ziehen die Aufmerksamkeit der Damen auf sich.
Foto: Olivier Bellec
Bevor die Audienz beginnt, nutzt man die Gelegenheit für einen kurzen Spaziergang im Park.
Foto: Alexander Jungmann
Die Hofleute erwarten die Audienz des Landgrafen.
Foto: Olivier Bellec
Die Damen auf dem Weg in die bel étage
Foto: Peter J.Scherer
Der Ausbildungsoffizier bereitet sich hingegen für die Prüfung der Kadetten vor.
Foto: Alexander Jungmann
Der Landgraf begrüßt die Hofleute streng nach Protokoll.
Foto: Olivier Bellec
Offiziere und Diplomaten warten im Vorzimmer, um zum Landgrafen vorgelassen zu werden.
Foto: Alexander Jungmann
der englische Unterhändler und der französische Botschafter.
Foto: Olivier Bellec
Im Vorzimmer lässt der französische Botschafter seinen Charme spielen.
Foto: Olivier Bellec
Beim Landgrafen hat er damit jedoch keinen Erfolg.
Foto: Juan Mora Cid
Der Landgraf wird über den desolaten Zustand der Garnison in Wesel in Kenntnis gesetzt.
Foto: Juan Mora Cid
Der Finanzminister in weiteren Verhandlungen.
Foto: Olivier Bellec
Aufsehen erregte die Einführung des Fräuleins von Vincke bei Hofe, die der Landgraf sofort „
bemerkte“. Die junge Dame stieg kometenhaft in der Gunst des Landgrafen auf, die einführende Familie wurde mit Gunstbezeugungen überhäuft, so wurde ihrem Onkel, einem Major, ein aktives Kommando übertragen und eine Berufung in den Kriegsrat nach dem Amerikafeldzug zugesagt. Das Verhältnis sorgte tatsächlich für enormes Gerede bei Hofe und der Landgraf schockierte den gesamten Hof, als er das Fräulein von Vincke kommentarlos an seiner Seite bei der Audienz und danach beim Konzert präsentierte.
Madame de Luchet sorgte ebenfalls für Aufsehen, da sie, auf Empfehlung von Voltaire (in der tatsächlichen Geschichte des Hofes war Luchet allerdings männlich) an den Hof kam und den Landgrafen für die neue französische Oper mit Grétry, Gluck und Philidor begeisterte. Mrs Brighten, eine vom Landgrafen angeforderte englische Opernsängerin interpretierte die neue Musik.
Der Landgraf war tatsächlich Musik und Theaterbesessen. Er investierte Unsummen in seine Ensembles und wählte auch selbst die Sänger aus, die er bei seinen Reisen durch Frankreich oder Italien auch selbst engagierte.
Dass das Leben bei Hofe nicht nur Luxus und Müßiggang war, sondern im Gegenteil anstrengend und mit den berüchtigten Zeremonien für erheblichen Stress unter den Höflingen sorgte, wurde ebenfalls gezeigt. Audienzen nach französischem und spanischem Hofprotokoll demonstrierten eindrucksvoll das Ranggefüge bei Hofe und wie durch die Etikette Macht erlebbar gemacht wurde. Ein Staatsakt, wie die Verleihung des Ordens vom goldenen Löwen, mussten die Hofleute über sich ergehen lassen.
Der Hof erwartet den Landgrafen zum Konzert.
Foto: Alexander Jungmann
Der Landgraf erscheint in Begleitung einer neuen Dame bei Hofe.
Foto: Alexander Jungmann
Das Konzert findet streng nach Etikette statt.
Foto: Alexander Jungmann
Arien von Händel und Grétry werden gesungen.
Foto: Alexander Jungmann
Einblicke in die Wunderkammer
Foto: Ruben König
Ein neuer Ritter im Kreise des landgräflichen Ordens vom goldenen Löwen
Foto: Ruben König
Der Kerngedanke, den ich für unsere Hofhaltung hatte, war keine Bespaßungveranstaltung, bzw. eine Mottoparty zu veranstalten, sondern allen Teilnehmern, wie auch dem Publikum zumindest eine Ahnung davon zu geben, was es geheißen hat, Teil eines Hofes zu sein. Durch diese Zeremonien werden soziale Mechanismen aktiviert, Rangfolge spielt auf einmal eine große Rolle, auch Gunstvergabe und die Angst diese Gunst wieder zu verlieren.
Die militärische Parade, die mit dem großartigen Lauterbacher Bläserensemble zu einem glanzvollen Schauspiel wurde, mag im ersten Moment einfach nur beeindruckend und erhebend gewesen sein. Aber es war für mich und ich denke für jeden, der weiß, was dort eigentlich passierte, der erschütterndste und vielleicht gruseligste Programmpunkt der ganzen Veranstaltung.
Hier führt der Landgraf dem englischen Unterhändler seine Soldaten vor, die zur Verschiffung nach Amerika vorgesehen sind. Es ist aus der heutigen und auch aus der damaligen Sicht der Aufklärer ein offener Menschenhandel. Menschen werden als Material, als Ware betrachtet. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Soldaten, wie oft fälschlicherweise behauptet wird, verkauft werden oder eben vermietet, wie es tatsächlich geschah. Menschen, Soldaten als Eigentum zu betrachten, das beliebig verwendet werden kann, ist nur mit dem Wort fürchterlich zu beschreiben. Mir war es wichtig, dass dieser Aspekt unbedingt Teil der Veranstaltung gewesen ist.
Alle Programmpunkte waren, fern von Klischees oder möglichen Erwartungshaltungen, eng an der tatsächlichen Geschichte des hessischen Hofes angelehnt. Selbst die Abendsoirée des Landgrafen mit Spiel und Konzert orientierte sich an den damaligen Begebenheiten im Landgrafenschloss zu Kassel. Die von uns rekonstruierte Etikette (natürlich nach Primärquellen) wurde abends gelockert, wie damals auch.
Das übliche Abendvergnügen im Schloss: Glücksspiel.
Foto: Olivier Bellec
unterhaltsame Konversation oder werden Intrigen gesponnen?
Foto: Olivier Bellec
Die Hofdamen amüsieren sich.
Foto: Olivier Bellec
Der französische Botschafter beobachtet das Treiben des Hofes.
Foto: Olivier Bellec
Es wird gewonnen, aber auch verloren.
Foto: Olivier Bellec
Es wird getanzt, englische Tänze zu Ehren des englischen Unterhändlers.
Schließlich stimmen die Offiziere noch das "Rule Britannia" an, ein eindeutiges Signal an den französischen Botschafter.
Foto: Olivier Bellec
Die Soldaten feiern ihren Dienstschluss in der Taverne.
Foto: Olivier Bellec
Die Kerzen werden spät in der Nacht gelöscht.
Foto: Olivier Bellec
sieht Georg Forster eine neue Zeit heraufdämmern?
Foto: Olivier Bellec
All das zusammengenommen, das wirkliche Leben dieser Rollen, ohne Klischees, machte diese Veranstaltung zu etwas ganz Besonderem und zum bisherigen Höhepunkt meiner eigenen Tätigkeit in dieser Szene. Es war ein langer und steiniger Weg, das Finden der Leute, das Aufarbeiten der Geschichte, die Rekonstruktion der Hofetikette, natürlich auch das Nähen der Kleidung. Dieser Veranstaltung gingen im Grunde 10 Jahre harte und intensive Arbeit voraus. Aber ohne die Mitwirkung und Begeisterung der mehr als 50 Teilnehmer, ohne den bemerkenswerten Einsatz der Familie Wellstein, wäre diese Veranstaltung nie zu diesem ganz besonderen Ereignis geworden.
Für mich war und ist es ein Privileg, mit so tollen Menschen zusammenarbeiten zu dürfen! Danke an alle, die dabei waren.